Die Wandmalereien des Pietro Cavallini in Santa Cecilia in Trastevere: Bauaufnahme und Rekonstruktion des malerischen Dekorationssystems mit Hilfe eines Tachymeters

Forschungsbericht (importiert) 2004 - Bibliotheca Hertziana – Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte

Autoren
Schmitz, Michael
Abteilungen
Malerei und Bildkünste der Frühen Neuzeit (Prof. Dr. Sybille Ebert-Schifferer)
Bibliotheca Hertziana - MPI für Kunstgeschichte, Rom
Zusammenfassung
Um 1300 übernahm Pietro Cavallini, der bedeutendste römische Maler des Mittelalters, mit seiner Werkstatt die Aufgabe, das Mittelschiff von Santa Cecilia in Trastevere mit einem umfangreichen Bildprogramm auszustatten. Die Malereien entfalteten sich auf den Wänden der etwa 500 Jahre älteren Architektur und gingen mit dieser einen bemerkenswerten Dialog ein. Von der ehemaligen malerischen Ausstattung hat sich lediglich ein Bestand von knapp zehn Prozent erhalten, der infolge zahlreicher Umbaumaßnahmen aus nachmittelalterlicher Zeit heute vom Langhaus aus nicht mehr zu sehen ist. Mithilfe eines Tachymeters konnten die noch immer vorhandenen Reste der Malereien in ihrer Lage auf den karolingischen Wänden genau erfasst werden. Zudem war es möglich, das hochentwickelte scheinarchitektonische Rahmen- und Dekorationssystem der Cavallini-Werkstatt zu rekonstruieren und es damit erstmals empirisch gesichert der kunstwissenschaftlichen Forschung zur Verfügung zu stellen.

Zur Baugeschichte von Santa Cecilia in Trastevere und dem Befund vor Ort

In der für die europäische Kunstentwicklung so folgenreichen Phase des Übergangs vom 13. zum 14. Jahrhundert nehmen die heute nur noch fragmentarisch erhaltenen Fresken des Pietro Cavallini und seiner Werkstatt in Santa Cecilia in Trastevere in Rom eine zentrale Stellung ein. Die in transdisziplinärer Zusammenarbeit gewonnenen Daten ermöglichen erstmals eine Rekonstruktion der einstigen Bildregister und der Disposition des scheinarchitektonischen Rahmengerüstes auf der Wand. Der fragmentarisch überlieferte Freskenbestand ist nur schwer zugänglich und entzieht sich aufgrund der nachmittelalterlichen Umbauten den Blicken des heutigen Betrachters, denn er ist nur noch vom Dachstuhl der Basilika und vom Hochchor an der Eingangswand zu sehen.

Der Aufriss der Seitenwände ist ebenso wie das große Tonnengewölbe und der Hochchor an der Eingangsinnenwand ein Resultat der Baumaßnahmen des 18. und 19. Jahrhunderts. Diese verdecken die Struktur der von Papst Paschalis I. um 820 errichteten Basilika. Die axial von Ost nach West ausgerichtete Kirche besitzt ein Haupt- und zwei bedeutend schmalere Seitenschiffe, wobei das Hauptschiff in einer eingezogenen, halbrunden Apsis mündet und die Seitenschiffe an geraden Rückwänden abschließen. Einst trennten Spoliensäulen, die jeweils dreizehn Arkaden trugen, das Mittelschiff von den Seitenschiffen. Das ehemals offene Dachwerk wurde in den 1740er-Jahren eingewölbt, die Arkatur erst in den Jahren 1822 bis 1823 vermauert und in Pfeiler umgewandelt [1]. Mehrere Bildquellen belegen die ursprüngliche Gestaltung der Säulen- und Arkadenstellung in Santa Cecilia ebenso wie drei noch in situ befindliche Säulen. Die neu durchgeführte Bauaufnahme bestätigt die Untersuchungen Richard Krautheimers, wonach über jeder Arkade des Langhauses in der Obergadenzone ein Rundbogenfenster eingelassen war, sodass der karolingische Bau im Mittelschiff sechsundzwanzig Fensteröffnungen hatte, die zusammen mit den Fenstern der Fassade und der Apsis das breite Langhaus und das Presbyterium erhellten [2].

Die Werkstatt des Pietro Cavallini sah sich im späten 13. Jahrhundert mit der Aufgabe konfrontiert, die Vorgaben der beschriebenen Architektur zu berücksichtigen und führte das Freskenprogramm an den Seitenwänden des Mittelschiffes und an der Eingangswand aus. Nur die Apsiswand und die Apsiskalotte blieben in ihrer karolingischen musivischen Ausstattung unangetastet. Der Eindruck, den der spätmittelalterliche Kirchenbesucher nach der Fertigstellung dieser Kampagne hatte, stellt sich heute aufgrund der nachträglichen Umbauten der Kirche und der großflächigen Zerstörung der Fresken sowie großer Teile der einstigen liturgischen Ausstattung nicht mehr ein, doch trägt die Rekonstruktion dazu bei, eine Vorstellung von der ursprünglichen Wirkung zu gewinnen (Abb. 1).

Forschungsvorhaben und Forschungsansatz mithilfe der Bauaufnahme

Die Forschung hat dem Problem der Aufgabenstellung bisher fast keine Aufmerksamkeit gewidmet. Nur wenige Studien versuchten, dem Schema des Dekorationssystems auf den Grund zu gehen, obwohl man sich über dessen Bedeutung stets bewusst war. Allein Wilhelm Paeseler hat vor mehr als fünfzig Jahren eine nur teilweise auf Messungen basierende grafische Rekonstruktion vorgeschlagen, die sich grundsätzlich mit den empirisch gesicherten Ergebnissen der hier vorzustellenden Bauaufnahme deckt, aber unter mehreren Gesichtspunkten zu revidieren und zu korrigieren war [3].

Die Bauaufnahme, die von einer Fotokampagne begleitet wurde, welche die erhaltenen Wandmalereien erstmals vollständig dokumentiert, erfolgte mit einem Tachymeter. Dabei handelt es sich um ein Vermessungsinstrument, das den Vertikal- und den Horizontalwinkel sowie mithilfe eines Laserstrahls auch die Schrägdistanz zu einem Objektpunkt misst. Zur technischen Ausstattung der Bibliotheca Hertziana gehört eine reflektorlos arbeitende, motorisierte Version dieses Gerätes. Der Tachymeter arbeitet rechnergesteuert - die Kontrolle des Messfortschrittes erfolgt vor Ort am Bildschirm. Die Ergebnisse werden mit CAD (Computer Aided Design) weiterbearbeitet. Der technische Einsatz dieses Gerätes erlaubt unter anderem, berührungsfrei und ohne die aufwendige Installation von Gerüsten die vollständige und auf den Millimeter genaue Vermessung der Architektur und der raumübergreifenden Freskenausstattung vorzunehmen. Das hier beschriebene Projekt hat insofern Pioniercharakter, als mit dieser Methode erstmals auch Malereien und nicht nur Architektur aufgenommen wurden.

Auf der Grundlage der gewonnenen Maße war es darüber hinaus möglich, mithilfe einer Einbild-Fotogrammetrie-Software die in der Fotokampagne erstellten Ektachrome der Freskenreste in die Bauaufnahme einzubinden. Daraus resultieren entzerrte und streng an der Bauaufnahme orientierte Aufnahmen aller erhaltenen Freskenfragmente, die auch der Rekonstruktion zugrundeliegen (Abb. 2 und 3).

Umfang und Rekonstruktion der Ausmalung von Santa Cecilia

Bisher hatte man keine genauen Vorstellungen von Ausmaß und Verlust der malerischen Ausstattung. Die von der Cavallini-Werkstatt ausgeführten Wandmalereien bedeckten eine Gesamtfläche von etwa 840 Quadratmetern. Davon haben sich nur knapp zehn Prozent erhalten. Das bekannte Fragment des „Jüngsten Gerichts“ an der Eingangswand macht mit etwa 40 Quadratmetern etwas weniger als fünf Prozent der Gesamtfläche und etwa 45 Prozent des erhaltenen Bestandes aus (Abb. 4). Die Angaben basieren auf den neuen Messungen und wurden neben weiteren Ergebnissen mit Auto-CAD ermittelt.

Die im Laufe des Projektes durchgeführten grafischen Rekonstruktionen der karolingischen und der heutigen Architektur bestätigten zum einen die Ergebnisse der einzigen zuvor realisierten Bauuntersuchung der Basilika durch Richard Krautheimer, zum anderen modifizierten und präzisierten sie diese auch in den Details. Ferner wurde die grafische Rekonstruktion durch die Sichtbarmachung der genauen Lage der erhaltenen Fresken auf dem karolingischen Wandriss erweitert, sodass als Ergebnis eine mit CAD bearbeitete, millimetergenaue Rekonstruktion der Malereien aus dem späten 13. Jahrhundert vorliegt (Abb. 5 und 6).

Zur Rekonstruktion des Dekorationssystems

Die Cavallini-Werkstatt hat auf den Seitenwänden ein dreizoniges Wandmalereiprogramm ausgeführt, das durch den Rhythmus der architektonischen Vorgaben auf der Grundlage einer systematischen Einbindung des Jochsystems mit seinen regelmäßigen Wandöffnungen skandiert ist. Jedes Joch weist im zentralen Register ein narratives Bildfeld auf, das zwischen Säulenarkade und Rundbogenfenster platziert war. Damit gewinnt man sichere Auskunft über die genaue Anzahl der Szenen des alt- und neutestamentarischen Zyklus, was grundlegend für die ikonographische Rekonstruktion der Bildfolge ist.

Auf der Achse der Jochgrenzen war über den Spoliensäulen in den Arkadenzwickeln jeweils ein Papst-Tondo eingefügt, auf der geschlossenen Wandfläche zwischen Arkadenscheitel und Fensterbank erhob sich eine scheinarchitektonische Cosmatensäule und in der Obergadenzone eine Heiligenfigur vor einer illusionistischen Öffnung. Darüber schloss die Konsole des Dachbinders an, womit eine weitere Einbindung des Freskenprogrammes in die Architektur der Basilika zu belegen ist.

Das systematisch strukturierte und elaborierte scheinarchitektonische Rahmengerüst ließ die Bildfelder des zentralen narrativen Registers mit den Ereignissen aus dem Alten und Neuen Testament einzeln und wirkungsvoll zur Geltung kommen. Dies galt auch für die hieratischen Standfiguren der Apostel und Märtyrerinnen in den Wandabschnitten zwischen den Fenstern.

Als eigenständige und durchlaufende Struktur ist die scheinplastische Blendarchitektur der Wand vorgelegt und führt zur Rhythmisierung derselben: Die Cavallini-Werkstatt hat auf diese Weise einen überzeugenden Dialog zwischen dem karolingischen Bau und dem malerischen Dekorationsprogramm herstellen können, wobei der Wandriss ausschlaggebend für die Position der Fresken und die Unterteilung der Register gewesen ist.

Bedeutung der Ergebnisse für die kunsthistorische Forschung

Das Forschungsprojekt hat unter anderem gezeigt, dass die Vorbilder, die hier zu einer einzigartigen und in der damaligen Zeit ausgesprochen modernen Synthese vereint wurden, vor allem in den Wandmalereiprogrammen von San Paolo fuori le mura, San Pietro in Vaticano und in der Oberkirche von San Francesco in Assisi zu suchen sind. Neben der Orientierung an den verlorengegangenen frühchristlichen Dekorationssystemen der beiden römischen Apostelbasiliken liegt dem Erscheinungsbild des rekonstruierten Rahmensystems die modifizierende Ableitung der in den frühen 1290er- Jahren ausgeführten Scheinarchitekturen in den Darstellungen der Legende des heiligen Franziskus in Assisi zugrunde. Diese zählen zu einem der einflussreichsten spätmittelalterlichen Bildzyklen in der europäischen Wandmalerei und gehen auf Giotto di Bondone und seine Werkstatt zurück. Der Zusammenhang zwischen dem römischen und dem umbrischen Zyklus wurde bisher zwar vereinzelt vermutet, hat aber erst jetzt auf der Grundlage der neuen Ergebnisse eine empirische Bestätigung erfahren.

Darüber hinaus konnte nachgewiesen werden, dass Cavallini aus dem reichen Reservoir der Cosmatenkunst und dem in Rom und Assisi in verschiedenen Gattungen zirkulierenden gotischen Formenvokabular schöpfte. Nimmt man den überlieferten Denkmälerbestand als Grundlage, so dürfte im Rahmen- und Dekorationssystem der Fresken von Santa Cecilia in Trastevere die früheste sicher dokumentierte Symbiose gotischer und cosmatesker Formenelemente im Medium der Monumentalmalerei zu fassen sein, die sich auf einem außergewöhnlich hohen illusionistischen Niveau der Scheinarchitektur artikuliert.

Die Bedeutung der cavallinischen Wandmalereien in Santa Cecilia in Trastevere stand nie ernsthaft in Frage, doch blieb ihnen bisher erstaunlicherweise eine gründliche wissenschaftliche Analyse versagt. Die Erschließung des Materials durch moderne Messmethoden hat einen wesentlichen Beitrag zum besseren Verständnis dieser bedeutenden Fresken geleistet. Die begleitende Fotokampagne mit der vollständigen Dokumentation der Malereien in ihrem zum Teil dramatisch schlechten Zustand stellt ferner die Dringlichkeit einer gründlichen und gewissenhaften Restaurierung vor Augen, die dieses wertvolle Dokument europäischen Kulturgutes für die Zukunft bewahren sollte.

Originalveröffentlichungen

1.
E. Bentivoglio:
I progetti del XIX secolo per S. Cecilia in Trastevere: motivi delle trasformazioni e nuovi dati sulla basilica del IX secolo.
Quaderni dell’Istituto di Storia dell’Architettura, ser. XVII–XIX (anni 1970–1972), fs. 97–114 (I semestre 1975), 133–140.
2.
R. Krautheimer:
Corpus Basilicarum Christianarum Romae.
Le basiliche cristiane antiche di Roma (sec. IV–IX), Bd. 1, Vatikanstadt 1937, 95–112, Taf. XIV–XVI.
3.
W. Paeseler:
Die römische Weltgerichtstafel im Vatikan. Ihre Stellung in der Geschichte des Weltgerichtsbildes und in der römischen Malerei des 13. Jahrhunderts.
Kunstgeschichtliches Jahrbuch der Bibliotheca Hertziana, Bd. 2 (1938), 311–384, Abb. 308f.
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