„Bilderwanderung“ und Sprachmetamorphose: Untersuchungen zur Transformation des Forschungsansatzes von Aby Warburg (1866–1929) durch seine Nachfolger

Forschungsbericht (importiert) 2013 - Bibliotheca Hertziana – Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte

Autoren
Targia, Giovanna
Abteilungen
Bibliotheca Hertziana - Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte, Rom
Zusammenfassung
Deutsche Kunsthistoriker, die zur Emigration gezwungen waren, haben ihre Forschungen losgelöst von der ursprünglichen, die Denkweise stark beeinflussenden Sprach- und Gelehrtentradition in neuem Umfeld und anderer Sprache fortgesetzt. Dabei hat sich ihre wissenschaftliche Sprache transformiert. Ein Forschungsprojekt an der Bibliotheca Hertziana untersucht, wie sich der Ansatz Aby Warburgs in den Schriften seiner Nachfolger verändert hat und welche Konsequenzen die Sprache und ihre jeweilige kulturelle Forschungstradition für das Studium der bildenden Kunst haben.

Die Sprache der Kunstgeschichte

Für das Studium der bildenden Kunst ist die Frage nach der Sprache der Forschungsliteratur von zentraler Bedeutung. Die Sprache bietet eine begriffliche Struktur und damit auch ein inhaltliches System, in das sich Bildbeschreibungen und -deutungen einfügen. Daher ist die Sprachanalyse sowohl methodisch als auch inhaltlich ein wichtiger Ansatz, um die Kunstgeschichtsschreibung zu erforschen. Die jeweilige Wortwahl und die spezifische Verwendung rhetorischer und stilistischer Mittel, die sich der Kunsthistoriker zu eigen macht, weisen nicht nur auf individuelle Präferenzen hin, sondern liefern darüber hinaus auch wichtige Informationen über die Entwicklung theoretischer und fachtechnischer Fragen. Dies gilt besonders in Bezug auf kritische Übergangszeiten in der Entwicklung der wissenschaftlichen Disziplin und vor allem für die Zeit nach der Emigration deutschsprachiger Intellektueller (nicht nur im Bereich der Kunstgeschichte) infolge des Nationalsozialismus.

Unter dem Gesichtspunkt der Übersetzung und Transformation der kunstwissenschaftlichen Sprache widmet sich ein Forschungsprojekt an der Bibliotheca Hertziana dieser bedeutenden Phase der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts. Es untersucht die sprachlichen, kulturellen und wissenschaftlichen Auswirkungen der Emigration einer Gruppe von Kunsthistorikern um Aby Warburg, hauptsächlich Erwin Panofsky und Edgar Wind. Diese waren in den1930er-Jahren aufgrund ihrer jüdischen Abstammung aus ihren Positionen entlassen worden und sahen sich gezwungen, ins Ausland zu emigrieren und ihre Forschungen in englischsprachigen Ländern fortzusetzen [1].

Historische und theoretische Folgen der Übersetzung Warburgs

Schon der italienische Historiker und Kunstwissenschaftler Carlo Ginzburg hatte 1966 angedeutet, dass die Methode Warburgs nicht mit jener seiner Nachfolger gleichzusetzen sei. Man müsse sich „vor allem über deren spezifische Merkmale einig werden und klären, inwieweit und wie das Werk Warburgs von seinen Anhängern fortgesetzt wurde“ [2]. Eine solche Charakterisierung kann nur auf der Basis einer gründlichen Analyse von Warburgs Schriften und gedanklichen Hinterlassenschaften vorgenommen werden. Die Sprachanalyse erweist sich in diesem Kontext als essenzielles Instrument. Damit lässt sich nicht nur die Rezeptionsgeschichte des Autors nachverfolgen, sondern auch die Bedeutung der sprachlichen wie kulturellen Übersetzung und Transformation sowie Weiterverwertung seiner Resultate definieren. So übersetzte Panofsky beispielweise den Warburg’schen Begriff der „Pathosformel“ mit „typification“ oder bisweilen auch mit „iconographic formula“, wobei der dynamische Charakter und die biologische, von Darwins Ausdruckstheorie stammende ursprüngliche Idee der „Pathosformel“ fast völlig verblassen.

Unter allen Leistungen Warburgs ist es vor allem sein berühmter Bilderatlas Mnemosyne, der bis heute große Aufmerksamkeit in der Forschung erfährt. Das Werk sollte anhand des Begriffs der „Pathosformel“ [3] den „Prozeß illustrieren, den man als Versuch der Einverseelung vorgeprägter Ausdruckswerte bei der Darstellung bewegten Lebens bezeichnen könnte“ [4]. Es handelt sich dabei um eine in thematischen Tafeln organisierte Bilderreihe zur Untersuchung der Kunst der europäischen Renaissance, begleitet von einer kurzen, dichten Einleitung. Gerade diese Art der Kombination von Wort und Bild hat sich in der unmittelbaren Rezeption als besonders schwer übersetzbar erwiesen.

Ein enger Mitarbeiter des Begründers der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg, Fritz Saxl (1890–1948), schrieb 1922 über Warburg, er sei „kein Nachfolger von Burckhardt, sondern ein Fortsetzer“ [5] gewesen. Haben sich die Anhänger Warburgs selbst als Nachfolger oder vielmehr als Fortsetzer der Ideen ihres charismatischen Mentors verstanden? Dass sie nach ihrer erzwungenen Emigration einen eigenständigen Weg beschritten haben, steht außer Zweifel, aber welchen Anteil trägt daran die sprachliche Transformation und Weiterentwicklung der Warburg’schen Methode?

Die Rolle der intellektuellen Emigration

Die Studien der Kunsthistoriker Erwin Panofsky (1892–1968) und Edgar Wind (1900–1971) gelten als Meilensteine der kunstgeschichtlichen Forschung; ihre Wirkung ist bis heute ungebrochen. Mit der Weiterentwicklung des Ansatzes Aby Warburgs stellten sie die Methode auf eine wissenschaftliche Basis und beeinflussten so die gesamte kunstwissenschaftliche Disziplin. Als Erwin Panofsky 1955 seine Impressions of a Transplanted European (Eindrücke eines versprengten Europäers) niederschrieb, wies er der deutschen Sprache als „Muttersprache“ der Kunstwissenschaft eine zentrale Bedeutung zu: „Wiewohl in einer Tradition verwurzelt, die sich auf die italienische Renaissance zurückführen läßt und darüber hinaus auf die klassische Antike, ist die Kunstgeschichte [...] ein vergleichsweise neuer Hinzukömmling in der Familie der akademischen Disziplinen. Und zufälligerweise ist, wie es ein amerikanischer Gelehrter ausdrückte, ,ihre Muttersprache deutsch‘“ [6]. Laut Panofsky hat die „deutschsprachige“ Kunstgeschichte ihre Anerkennung und Verankerung als akademisches Fach [7] unter den Geisteswissenschaften, ihre methodologische Ausdifferenzierung sowie ihren Einfluss auf Nachbardisziplinen und Wechselwirkungen etwa mit den Literatur- und Geschichtswissenschaften oder auch der Archäologie befördert. Auch nach Jahrzehnten der Emigration in Amerika fühlte sich Panofsky mit seinem Forschungsansatz immer noch kulturell im deutschsprachigen Gebiet verwurzelt und seiner Forschungstradition verpflichtet. Wie ein großer Teil der emigrierten deutschen Kunsthistoriker musste auch er seine eigenen Texte ins Englische übersetzen, um seine Forschungen weiterzuführen. Im Gegensatz zu anderen Fachkollegen schrieb Panofsky ab dem Zeitpunkt seines Exils jedoch fast ausnahmslos auf Englisch und weigerte sich auch später, wieder auf Deutsch zu schreiben. Dieser viel diskutierte und bisweilen auch polemisch interpretierte Aspekt kann unter anderem darauf zurückgeführt werden, dass Panofsky sein „eigenes Wörterbuch“ erarbeiten wollte und dabei erkannte, dass seine muttersprachliche Terminologie hierfür „oftmals entweder unnötig schwerverständlich oder gründlich unpräzise war“ war.

Das problematische Verhältnis Panofskys zu seinem sprachlichen und kulturellen Kontext ist in diesem Fall also der Ausgangspunkt für die Analyse nicht nur sprachlicher Besonderheiten, sondern auch des damit verbundenen Umwandlungs- und Übersetzungsprozesses der wissenschaftlichen Begriffsstruktur sowie der Entwicklung neuer methodologischer Paradigmen. Denn in der Emigration entwickelten die ersten Forscher im Umkreis Warburgs die vorhandenen methodischen Modelle weiter, indem sie Elemente aus dem neuen Sprachmilieu mit geerbtem Wissen zu verbinden suchten. Was genau im Laufe dieses Prozesses verloren und gewonnen wurde, wird im Forschungsprojekt genauer untersucht.

Nationale und internationale Dimension

Die Erforschung der klassischen Antike und der italienischen Renaissance bot den Gelehrten immer schon die Möglichkeit, der eigenen Zeit einen Spiegel vorzuhalten. Am Beginn des 20. Jahrhunderts war es die italienische Renaissance, die ins Zentrum des Interesses deutscher Forscher rückte und sich für Vergleichsbeobachtungen und zeitgenössische Betrachtungen anbot. Nationale Elemente flossen bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts in die kritische Kunstliteratur ein.

Davon setzen sich Aby Warburg und seine Nachfolger deutlich ab und bleiben damit vorerst eine Ausnahme. Die von Warburg vertretene Renaissance-Forschung konzentriert sich auf die Untersuchung von Ideen- und „Bilderwanderung“ [8] und betrachtet die europäische Dimension der Renaissance als „Wiederbelebung“ der klassischen Antike. Letztlich ist es dieser Ansatz, der die weitere Forschungsrichtung entscheidend und nachhaltig prägen sollte. Die Sprache der jüngst gegründeten Disziplin Kunstgeschichte, die auf dem besten Weg war, autonom zu werden, erprobte sich und ihre Analyseinstrumente also an der italienischen Kunstgeschichte und mittels der deutschen Sprache.

Warburg selbst hat zu Lebzeiten zwar nur wenig veröffentlicht, dennoch hat er mit seiner spezifischen Sprach- und Denkweise einen höchst charakteristischen und heute noch anregenden Forschungsansatz geschaffen. Seine ersten Anhänger sahen sich durch ihre Emigration mit der Aufgabe konfrontiert, diesen auf den kulturellen und transnationalen Austausch gerichteten Ansatz in anderen Sprachen fortzuführen und weiterzuentwickeln. Inwiefern die kulturelle und geografische Distanz von Deutschland dazu beigetragen hat, gewisse Themenkomplexe, die sich für eine national geprägte Interpretation anboten, neutraler zu beurteilen, kann durch einen Text- und Sprachvergleich wissenschaftlich erhellt werden.

Das Forschungsprojekt beabsichtigt, durch das Prisma des Begriffs der „Übersetzung“ einzelne repräsentative Beispiele analytisch zu rekonstruieren. Damit kommt es der oft formulierten Forderung nach, die Frage nach der Distanz zwischen Warburg und seinen ersten Mitarbeitern zu vertiefen und zu klären. Im Vordergrund steht dabei die spannende Problematik der historischen und theoretischen Folgen der Emigration jener deutschen Kunsthistoriker. Das Projekt untersucht die zentrale Frage nach den Auswirkungen einer bestimmten sprachlichen und kulturellen Tradition auf das Studium der bildenden Kunst. Erstmals wird so das Problem der „Übersetzung“ bei der Rekonstruktion dieser entscheidenden Phase in der Entwicklung der wissenschaftlichen Disziplin Kunstgeschichte erforscht.

1.
Michels, K.
Transplantierte Kunstwissenschaft: Deutschsprachige Kunstgeschichte im amerikanischen Exil
Akademie-Verlag, Berlin (1999)
2.
Ginzburg, C.
Kunst und soziales Gedächtnis: Die Warburg-Tradition [1966]
In: Spurensicherungen: Über verborgene Geschichte, Kunst und soziales Gedächtnis, 114–172 (115); aus dem Italienischen von Karl Friedrich Hauber. Wagenbach, Berlin (1983)
3.
Settis, S.
Pathos und Ethos, Morphologie und Funktion
In: „Vorträge aus dem Warburg Haus“, Band 1, 31–73 (Eds. Kemp, W.; et al.). Akademie-Verlag, Berlin (1997)
4.
Warburg, A.
Der Bilderatlas Mnemosyne
In: Aby Warburg. Gesammelte Schriften II, 1, S. 3 (Eds. Warnke, M. unter Mitarbeit von C. Brink). Akademie-Verlag, Berlin (2000)
5.
Ghelardi, M.
Aby Warburg „als Fortsetzer“ di Jacob Burckhardt
In: La formazione del vedere: lo sguardo di Jacob Burckhardt, 113–125 (Eds. Pinotti, A.; Roli, M. L.). Quodlibet, Macerata (2011)
6.
Panofsky, E.
Meaning in the Visual Arts
Doubleday, New York (1955; deutsche Übersetzung: Sinn und Deutung in der bildenden Kunst; aus dem Englischen von Höck. W. DuMont Schauberg, Köln [1975], S. 379–380 und S. 387)
7.
Dilly, H.
Kunstgeschichte als Institution: Studien zur Geschichte einer Disziplin
Suhrkamp, Frankfurt am Main (1979)
8.
Bredekamp, H.
„Du lebst und thust mir nichts“. Anmerkungen zur Aktualität Aby Warburgs
In: Aby Warburg: Akten des internationalen Symposions Hamburg 1990, 1–7 (Eds. Bredekamp, H.; Diers, M.; Schoell-Glass, C.). VHC, Acta Humaniora, Weinheim (1991)
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