Oberflächeninteresse: Ein reisender Zeichner in Rom um 1550
Dr. Tatjana Bartsch
Zwischen 1548 und 1562 ist eine Gruppe von Architekturzeichnungen und Romveduten zu datieren, die ursprünglich aus einem Konvolut und aus einer Hand stammen, der eines anonymen, wohl niederländischen Künstlers. Obgleich einzelne Blätter in der Forschung gut eingeführt sind, ist die gesamte Gruppe bislang nie zusammenhängend untersucht worden. Dieser Umstand verwundert, handelt es sich doch um in vieler Hinsicht ungewöhnliche Zeichnungen von hoher künstlerischer Qualität. Die präzisen und zugleich bemerkenswert ausführlich gestalteten Ansichten Roms und seiner Bauten von der Antike bis in die Neuzeit präsentieren sich durch die aufwendige Umsetzung in unterschiedlichen Tinten mit teils mehrfarbigen Lavierungen als autonome Kompositionen. Dieser vordergründig ästhetisierende Eindruck wird gebrochen durch ein Netz an nichtbildlichen Chiffren – Buchstaben- und Zahlencodes für Farb- und Materialangaben für Mauertechnik und Wandgestaltung –, das viele der Ansichten überzieht und ihnen einen technisch-protokollierenden Charakter verleiht. Dazu trägt auch das unkonventionelle Prinzip der Raumerfassung bei, das sich nicht an Blattgrenzen stört, indem es den Bildausschnitt durch Anstückung einer zweiten Zone erweitert. Die genannten Besonderheiten der Bildkomposition sind ohne Vorläufer in der römischen Vedutentradition und beweisen ein großes Verständnis für die Details von Architektur und ihre Funktionen im Stadtraum, das von einem Faible für narrativ-pittoreske, ja poetische Bildelemente begleitet wird. Zu fragen ist nach dem Zweck dieser geradezu konservatorisch wirkenden Oberflächendokumentation. Trotz oder gerade auch wegen des Fehlens biografischer Sekundärinformationen sollen auf der Basis der Detailanalyse der Blätter und ihrer Kontextualisierung die Anteile des spezifisch "Eigenen" im Werk des Anonymus herausgearbeitet werden.