Künstliche Intelligenz verändert, wie wir Städte wahrnehmen
Forschungsbericht (importiert) 2024 - Bibliotheca Hertziana – Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte
Die Entwicklung und invasive Anwendung Künstlicher Intelligenz (KI) in allen Lebensbereichen, einschließlich der Künste und Wissenschaften, erfordert dringend eine kritische Analyse ihrer disruptiven Risiken und Chancen. Prof. Dr. Tristan Weddigen von der Bibliotheca Hertziana - Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte leitet das Center for Digital Visual Studies (DVS), das von 2020 bis 2026 an der Universität Zürich angesiedelt ist. Dieses interdisziplinäre Labor erforscht die Schnittmenge von Informatik und Kunstgeschichte, insbesondere KI und bildende Künste. Dr. Darío Negueruela, wissenschaftlicher Koordinator der DVS, ist ein führender Experte auf dem Gebiet der Veränderung des städtischen Raums und der Architektur durch KI. KI-generierte Stadtbilder sind heute in der Werbung, der Immobilienentwicklung, in Filmen, Videospielen und sozialen Medien allgegenwärtig und überfluten unsere Vorstellungskraft mit hübschen Stadtveduten oder dystopischen Molochen. Aber was bedeuten diese Bilder, und welche kulturellen und gesellschaftlichen Auswirkungen haben sie?
KI-Systeme, die auf riesigen Datensätzen trainiert wurden, sind alles andere als neutral. Sie fungieren als Vermittler, die kulturelle Annahmen über städtische Räume kodieren, verstärken und verbreiten. Diese Systeme tragen zu dem bei, was Negueruela als "zufällige urbane Archive" bezeichnet. Solche unbeabsichtigten Datensammlungen bieten neue Möglichkeiten für die Analyse des Stadtraums und werfen gleichzeitig kritische Fragen auf zu Vorurteilen, zur Begrenzung der Vorstellungskraft und zu kulturellem Handeln.
Die sogenannten Foundation Models der KI beziehen ihr Wissen aus gigantischen Datensätzen von Bildern, Texten und digitalen Inhalten, die ein globales Mosaik kultureller Perspektiven, einschließlich des städtischen Lebens, widerspiegeln. Diese Datensätze dienen, wenn auch unbeabsichtigt, als Reservoir der kollektiven Erinnerung und Imagination, die urbane Mythen und Ideologien kodiert. In Anlehnung an Roland Barthes' Konzept der "mythologischen Strukturen" sehen wir, wie diese Archive kulturelle und historische Repräsentationen naturalisieren und sie in KI-generierte Architekturen einbetten.
Dieser Prozess schafft das, was Negueruela "implizite urbane Theorie" nennt – eine Vision von der Stadt, die eher durch statistische Muster als durch bewusste Theoriebildung geprägt ist. Multimodale KI-Modelle verbinden Texte und Bilder, ordnen visuelle Merkmale von Stadtlandschaften sprachlichen Deskriptoren zu und schaffen Netzwerke kultureller Assoziationen. Diese "verschwommene generative urbane Grammatik" tut mehr als nur urbane Darstellungen zu replizieren, wie das hier abgebildete einfache Experiment zeigt (Abb.): KI-Modelle betten kulturelle Assoziationen in die von ihnen erzeugten Bilder und Texte ein. Durch ihre massive Verbreitung vermitteln sie aktiv, wie sich die Gesellschaft die Stadt vorstellt, und fördern eine Rückkopplungsschleife zwischen maschinengenerierten Bildern und gesellschaftlicher Wahrnehmung.
KI und die Gestaltung von Stadtbildern
Die Auswirkungen der KI auf die Vorstellungen des Urbanen gehen über die Ästhetik hinaus. Cornelius Castoriadis' Konzept des "sozialen Imaginären" verdeutlicht, wie kollektive Repräsentationen zwischen dem Symbolischen und dem Realen vermitteln. KI-generierte Bilder, die in digitalen Netzwerken allgegenwärtig sind, fungieren als "automatisierte kulturelle Synthese". In ihr sind Traditionen, historische Motive und hybride Formen vermischt. Die so generierten Bilder prägen neue kulturelle Normen und beeinflussen Architektur und Planung sowie unsere Vision zukünftiger Städte.
Doch die KI birgt auch die Gefahr einer "imaginativen Einschränkung". Wie der Philosoph Yuk Hui argumentiert, sind KI-Systeme Agenten einer künstlichen Vorstellungskraft, die innerhalb technischer Beschränkungen operiert und dennoch tief mit menschlichen kulturellen Prozessen verwoben ist. Während sie neue urbane Visionen hervorbringen, schränken sie die Vorstellungskraft innerhalb der Grenzen ihrer Trainingsdaten und Algorithmen ein. Der Begriff der "operativen Bilder", den der Filmemacher Harun Farocki vorgeschlagen hat, erhält im Zeitalter der "autonomen künstlichen Imaginarien" neue Relevanz.
Auf dem Weg zu einer kritischen Auseinandersetzung mit KI-generierten urbanen Vorstellungswelten
KI-generierte urbane Vorstellungswelten fordern uns heraus, die Beziehung zwischen menschlicher und maschineller Vorstellungskraft zu überdenken. Diese Systeme sind keine passiven Werkzeuge, sondern aktive Teilnehmer an der Gestaltung von Urbanität und Kultur. In dem Maße, wie sie zu einem integralen Bestandteil der “Stadtbildes“ werden, werfen sie dringende Fragen auf: Wer kontrolliert die Trainingsdaten? Wessen kulturelle Perspektiven werden verstärkt oder ausgeschlossen? Und welche Rolle sollten diese Systeme bei der Gestaltung der städtischen Zukunft spielen?
Um diese Herausforderungen zu bewältigen, sind die Studien am Center for DVS in den Bereichen Kunst, Geisteswissenschaften und KI-Forschung notwendig interdisziplinär. Indem wir diese Systeme kritisch untersuchen, können wir sicherstellen, dass urbane Vorstellungswelten integrativ, anpassungsfähig und innovativ bleiben. Der sich entwickelnde Dialog zwischen menschlicher und maschineller Kreativität bietet einen Weg, um das transformative Potenzial der KI mit ihren kulturellen und ethischen Risiken in Einklang zu bringen. Nur wenn wir uns auf diesen Dialog einlassen, können wir das Potenzial der KI nutzen, um Städte auf eine Weise neu zu gestalten, die gerecht, imaginativ und inspirierend ist.
Literaturhinweise
DOI 10.48431/hsah.03
DOI 10.60152/eun81fru
DOI 10.21096/disegno_2023_1inetal
DOI 10.34626/2024_xcoax_016