Historische Räume in Flavio Biondos Italia illustrata (abgeschlossen)
Eine kognitiv-semantische Analyse von Texten und Karten

Mit der Untersuchung der Beziehungen zwischen historischen Karten und Texten soll das historische Raumverständnis und das mit ihm verknüpfte Wissen ergründet werden. Die Italia illustrata von Flavio Biondo (Mitte 15. Jh.) bietet sich hierfür besonders gut an, da das Buch in einem topographischen Rahmen von Orten auch die Geschichte dieser Orte darbietet, wobei der Autor explizit das Problem betont, dass sich das Land seit der Antike sehr verändert habe und sein Text auch die Veränderungen zu benennen habe. Nicht zuletzt aufgrund dieser Herangehensweise gilt Biondo als der eigentliche Begründer der archäologischen Wissenschaft und der antiquarischen Topographie. In der Italia illustrata zieht er in hohem Maß Autoren der römischen Antike wie Livius, Vergil und Plinius heran. Griechische Autoren wie Strabon und Ptolemaios werden dagegen – trotz der geographischen und topographischen Inhalte und trotz der Intentionen von Biondos Werk – nur spärlich berücksichtigt. Eine Ausnahme bildet das Latium-Kapitel (Regio Latina), in dem Biondo intensiv eine (bisher unentdeckte) lateinische Übersetzung des Strabon benutzt. Dieses Kapitel wurde zunächst zur genaueren Analyse ausgewählt.
In ein topologisches Netz aus Orten, deren geographische Lage von Biondo nicht immer genau zu benennen ist, baut er historische Informationen ein. Er entwirft so einen Raum der frühen Neuzeit, der von antikem Wissen ebenso getränkt ist wie von der Sorge um den Wissensverlust in der Gegenwart. Der Leser bewegt sich daher in einer unterschiedlich genau beschriebenen Landschaft auf bekannten Straßen und 'erblickt' der Reihe nach jene Orte, die Biondo dann bespricht.
Die kognitiven Karten, die dieser Darstellung Italiens zugrunde liegen bzw. von ihr entworfen werden, sind zentral für das historische Raumverständnis, denn sie bilden kulturspezifisches Raumwissen und Raumpraktiken ab. Um die linguistische Repräsentation dieser Karten genauer zu untersuchen, werden analytische Ansätze aus der kognitiven Linguistik und Computerlinguistik angewendet, insbesondere die maschinelle Sprachverarbeitung sowie syntaktische und semantische Textanalyse. Untersucht werden kognitiv-semantische Parameter wie Toponyme, Landmarken, räumliche Referenzrahmen, geometrische Relationen, Gestaltprinzipien oder auch unterschiedliche Perspektiven, die mit computerlinguistischen Analyseverfahren ausgelesen werden. Anhand von Text- und Kartenauszeichnungen und unter Anwendung korpusspezifischer, quantitativer Methoden werden der Text und die Karten im Kontext aufgearbeitet und neu interpretiert.

Verknüpft damit ist die Frage, ob und wenn dann wie bei der Abfassung der Italia illustrata tatsächlich 'viele Karten' benutzt wurden, wie die aktuelle Biondo-Forschung allgemein annimmt. Da nur wenige Regionalkarten aus dem frühen 15. Jahrhundert erhalten sind und selbst literarische Hinweise auf kartographisches Wissen sich kaum finden lassen, müssen mögliche Alternativen in einem interdisziplinären Zugriff (s. Workshop) diskutiert werden. Insbesondere ist zu erörtern, welche Strategien Biondo eingesetzt hat, um sein heterogenes Material an historiographischen, geographischen, archäologischen und kunstgeschichtlichen Informationen zu sammeln, zu filtern, aufzubereiten, und in einen für ein zeitgenössisches Publikum 'lesbaren' Text zu überführen.